Das Fenster zur Möglichkeit 


Das Fenster zur Möglichkeit Julia Ritterskamp

Text zur Ausstellung  Die Welt ist keine Scheibe / Kunstverein Recklinghausen e.V. 2011/2012



Es ist ein großes Programm, auf das man sich bei der Vertiefung in die Werke von Wolf Hamm einlässt, wie

schon der Ausstellungstitel impliziert – es wird um Erkenntnis, Wahrheit und Freiheit gehen.

Auch im persönlichen Gespräch mit dem Künstler kommt man schnell auf das Existenzielle: Wie geht es nun

weiter mit uns und der Welt? Hamms Gedanken kreisen um die Frage, ob wir uns nicht bereits (in dem von

Horkenheimer und Adorno beschriebenen Aufklärungsbegriff und dessen Dialektik1, bei dem die Menschheit

immer zwischen Barbarei und einem hochstehenden Zustand pendelt) moralisch gerade ganz unten befinden.

Angesichts der gesellschaftlichen Zustände in Europa und der Welt könnte man durchaus zu diesem Schluß

gelangen. Doch wo die Nacht am schwärzesten ist, ist der Tag bekanntlich auch am nächsten: der Ausblick ist

also positiv – unter der Voraussetzung, dass wir unsere Eigenverantwortlichkeit am Zustand der gesamten Welt

anerkennen (gemäß der selbstprophezeienden Wirklichkeit Watzlawicks).2

Wahrscheinlich sehen wir momentan einfach „vor lauter Licht die Sterne nicht“ – so der Titel einer Arbeit

von Wolf Hamm. Die übergroße Manga-Heldin steht hier mit Victory-Geste über allem. Für nichts anderes ist

mehr Platz, man muß eben ein Superheld oder eine Superheldin sein, um zu bestehen. Der Philosoph Herbert

Spencer fasste die Theorie Darwins mit dem Begriff „Survival of the Fittest“ zusammen. Sozialdarwinismus, der –

weitergedacht und verfremdet – in faschistoiden Ideen münden konnte und könnte. Der perfekte Job, perfekte

Partner, die perfekten Kinder, das perfekte Haus – wie die Manga-Frau steht die Idee, wie das Leben zu sein

hat, über allem. „Ist es zu stark, bist Du zu schwach“ – die Werbung macht es uns vor. Auf der anderen Seite

die neuen Volkskrankheiten Burn-Out und / oder Depression. Im Bild könnten dies die Kinder mit den grauen

Gesichtern symbolisieren, die sich mit den Händen die Ohren verschließen und die Augen zukneifen. Alles ist zu

laut, zu grell, zu erschöpfend für die Natur des Menschen. Und vor lauter Licht sieht man die Sterne nicht mehr.

Weitergedacht heißt das aber auch, man kann vor lauter (künstlichem) Licht – also den selbst produzierten

(Schein-) Wahrheiten – die Realität nicht mehr erkennen. Beleuchtung kann demnach auch vernebeln.

Das Werk von Wolf Hamm hält sich weder raus, noch zieht es sich nicht gepflegt auf die in jüngerer Vergangenheit

gerne propagierte l’art pour l’art-Position zurück. Im Gegenteil, virtuose Malerei wird zum Instrument, um

die Welt zu kommentieren und dem Betrachter mögliche Ausblicke anzubieten. Die in der zeitgenössischen

Kunst kaum gebrauchte Technik der Hinterglasmalerei schafft hierbei eine weitere Erkenntnisebene: diese ist

in der Arbeitsweise selbst begründet, denn Motive müssen vom Künstler spiegelnd gedacht, Dinge „von der

anderen Seite gesehen werden“. Hinzu kommt, dass eine Korrektur nur vor dem sehr schnell einsetzenden

Trocknungsprozeß stattfinden kann. Das steht im Gegensatz zu den Verbesserungsmöglichkeiten bei klassischer

Malerei auf Leinwand. Insofern hat der Arbeitsprozeß bei Wolf Hamm eine gewisse Verwandtschaft mit

japanischer Tuschemalerei, bei der der geübte Künstler mit sich und dem Werk sehr klar sein muß und erst

im richtigen Moment sicher den Pinsel ansetzt. Häufig gehen der Tuschezeichnung selbst hier langjährige

Meditationen und die Arbeit an der eigenen Persönlichkeit voraus. Das Ergebnis ist bei diesen Produkten nicht

mehr korrigierbar. Ungeachtet dieser Anforderungen an die sichere Hand bei Tusche- und Hinterglasmalerei

steht die gesamte Komposition bei den Werken Hamms aber keineswegs en Detail schon fest, wenn er zu malen

beginnt. Diese Mischung aus sicherer Entschiedenheit bei der Ausführung und tastender Entwicklung hinsichtlich

der Feinheiten der Bilderfindung könnte analog zu einem persönlichen Erkenntnisprozeß gelesen werden. Es

geht dem Künstler nicht um den Einsatz einer ungewöhnlichen Technik, um sich hierdurch von seinen Maler-

Kollegen abzuheben. Vielmehr hat Wolf Hamm lange nach einer Möglichkeit gesucht, die so farblich brilliant und

anziehend ist, daß sie den Betrachter lockt, sich mit tiefen Inhalten und Fragestellungen auseinanderzusetzen.

Eine Synthese zwischen der stetigen Suche nach Perfektion, die mit Glanz Aufmerksamkeit erregt, und echter

Malerei mit relevanten Inhalten findet hier in ganz besonderer Weise statt. Die Hinterglasmalerei erinnert

spontan an Volkskunst, wird hier aber eben nur als Medium eingesetzt. Wobei man dennoch die folgende

ketzerische These wagen könnte: liest man „Volkskunst“ als „Kunst für das Volk“, so finden sich vielleicht doch

Anklänge in den Arbeiten von Wolf Hamm. Wie Kunst in der Vergangenheit auch benutzt wurde, um auch

Analphabeten Inhalte verständlich zu machen, wehrt sich Hamm gegen jede intellektuelle Ausgrenzung und den

berühmten „erhobenen Zeigefinger“. Seine Bilder sind für jeden gemalt und für jeden verständlich, da es kein

Richtig oder Falsch gibt. Mit der Fertigstellung übergibt er sie der Phantasie des Betrachters.

Die Kompositionen erinnern teilweise an symbolistische Schlüsselwerke, etwa eines Gustave Moreau:

kandelaberartig schachteln sich Figuren ineinander und übereinander. Personen, Tiere, Vegetation und natura

morta scheint miteinander in geheimnisvoller Verbindung zu stehen und auseinander zu wachsen.

Eine weitere Verbindung zu den Symbolisten: Innere Erkenntnis treibt den Künstler um. Doch im Gegensatz

zu deren rein introvertiertem Suchen in der Seele soll bei Wolf Hamm im Idealfall der Impuls, die eigene

Lebenswirklichkeit zu überdenken, beim Betrachter angeregt werden.

Es gibt in den Werken Symbole und Elemente, die quasi leitmotivisch in verschiedenen Bildern wiederkehren:

Beispielsweise der (wie in einem Verbotsschild durchgestrichene) Apfel als Piktogramm (ein auffallender Bezug

zum „Apple“- Apfel) als pars pro toto für die Fragestellung, ob die in der alttestamentarischen Vorstellung mit

dem Sündenfall gegen den Willen Gottes begonnene Suche nach Erkenntnis in ihren Auswirkungen für die

Menschheit positiv oder negativ zu bewerten sei. Elektrizität, symbolisiert durch Feuer, Steckdose, Glühbirne

stehend für Kraft an sich. Der Fisch, welcher in unterschiedlichen Kulturkreisen variable Deutung erfährt. In

der Wolf Hamm familiär sehr vertrauten finnischen Mythenwelt wird er mit Weisheit assoziiert. Im westlichen

Abendland ist der Fisch das Symbol des Urchristentums. Aber es gibt auch Sprichworte, die das Tier in den

Dunstkreis des vergeblichen Bemühens rücken: „Wie ein Fisch auf dem Fahrrad“, „Wie ein Fisch auf dem

Trockenen“. Die Fische in „Das Ehrenwort“ kommen durch Geldscheine angelockt an Land. Die Gier ist

größer als die Einschätzung der eigenen physischen Möglichkeiten und den sicheren Tod. Der Großteil des

Hintergrundes ist monochrom grau. Man fragt sich, wurde die Landschaft, von der oben und unten noch kleine

Reste zu sehen sind, verschluckt und vernichtet oder ist alles durch den sich ausbreitenden Rauch des durch

brennende Geldscheine verursachten Feuers dicht vernebelt? Bezeichnet dieses monochrome Grau, welches

im seltsamen Gegensatz zu den sonst farblich reichen, detaillierten Kompositionen des Künstlers steht, einfach

die Leere an sich? Warnt die verführerische Frau im Zentrum den ihr offensichtlich zugeneigten Herrn vor

Konsequenzen seines Handelns oder zieht sie ihn mit magischen Kräften auf ihre Seite? Zeigt sie Vergangenheit,

Zukunft oder Gegenwart? Und was bedeutet das im Titel enthaltene Ehrenwort überhaupt noch in einer Zeit,

in der selbst schriftlich feinsäuberlich festgehaltene Vertragskonditionen mit einem Wisch als Geschwätz von

gestern abgetan werden?

In den meist vielfigurig angelegten Arbeiten Hamms kann sich der Betrachter verlieren im Versuch, das Rätsel

zu lösen – das Rätsel des Bildes und das des Lebens. Es entsteht der Eindruck, es könnten konkrete Figuren

aus Märchen und Mythen sein, die hier dargestellt sind. Doch das zu Konkrete würde den Geist einengen und

so letztendlich wegführen von weiterer Erkenntnis, welche nur in der Berücksichtigung vieler verschiedener

Möglichkeiten fußen kann, in einer Kombination aus horizontaler und vertikaler Denkweise, aus Ratio und

Intuition. Ganz konkret verarbeitet Wolf Hamm diesen Gedanken der Gleichwertigkeit von Verstand und Gefühl

bereits im Titel der Graphik-Serie „Wenn wir nicht fühlen, was wir denken“.

Die Antwort auf das Rätsel der Sphinx, was am Morgen vier Beine hat, am Mittag zwei und am Abend drei

lautet: „Es ist der Mensch“. Der Mensch steht im Zentrum des Weltbildes der Aufklärung des 18. Jahrhunderts

in Europa. Die Aufklärung, sowie auch schon der Humanismus der Renaissance, setzte sich bewusst ab von

der theozentrischen Vorstellung des Mittelalters. Es ging also immer um ein Entweder-Oder in der älteren

Geschichte und der Mensch hatte lange Zeit eine unangefochtene Sonderstellung in der Natur. Wolf Hamm

hinterfragt diese Trennung von Mensch, Natur und Gott in seinen Arbeiten einerseits durch die gezeigten

Figuren und Bildelemente, die miteinander in Aktion treten. Andererseits auch durch die für verschiedene

Personen und Symbole verwendeten unterschiedlichen Malstile. Comicduktus, an die sogenannte Volkskunst

erinnernde Formen und Techniken (z.B. Hinterglasmalerei und Holzschnitt) und Symbole, sowie farbensatt

mit schwungvollem Pinselstrich gemalte und kühl-abstrakte Partien grenzen sich in einem einzigen Bild

gegeneinander ab, kämpfen miteinander und sind letztendlich doch gezwungen, hinter oder auf dem Bildträger

unterstützt durch die Titelgebung eine Synthese einzugehen. Das Kunstwerk wird so zum Sinnbild der Welt. Für

den Betrachter ist es vergleichbar einem aufgestoßenen Fenster, welches den Blick auf eine Möglichkeit freigibt.

War die Aufgabe vergangener Generationen in der Analyse, der Abgrenzung, Sortierung und Trennung zu sehen,

kommen wir vermutlich nicht umhin, nun alles wieder zu vereinen und als Ganzes zu begreifen. Insofern sind

sogar Konzentration auf Gott oder Konzentration auf den Menschen keine echten Widersprüche mehr, nimmt

man den überlieferten Satz von Jesus Christus wörtlich: „Das Himmelreich ist in Euch“. Das Himmelreich und

die Hölle, könnte man zurückblickend auf die seitdem vergangenen Jahrhunderte ergänzen.

Wolf Hamm sympathisiert in dieser Frage nach der Eigenverantwortlichkeit eines jeden Individuums (angelehnt

an Paul Watzlawick3): Du kannst Dich in Deiner kleinen Zelle immer wieder entscheiden, jeder kann das

unendlich oft neu im Laufe des irdischen Lebens. Und viele solcher Entscheidungen werden große Auswirkung

haben. Wie das Entstehen einer Lawine oder der Schmetterlingseffekt, bei dem geringe Abweichungen von der

Norm langfristig ganze Systeme verändern können.

So fühlt man sich nach dem Betrachten der Bildwelten Hamms, als kehre man von einer langen Reise durch

Welten und Zeiten zurück. Und ist als aufmerksamer Reisender ein klein wenig verändert durch das Erlebte.


Wolf Hamm – Die Welt ist keine Scheibe“, Kunstverein Recklinghausen ( Hrsg.) Verlag Kettler, Böhnen 2012

( Texte von Torsten Rademacher, Julia Ritterskamp )